„Einfach zum Lesen“

Gedanken von Nina Schiestl zum Thema Scham -

Die Schönheit der Scham -

Im Folgenden habe ich ein paar Gedanken zum Thema Scham niedergeschrieben, inspiriert von Workshops mit Liv Larsson (Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und Mediatorin in Schweden) und Büchern von Brené Brown (Schamforscherin an der University of Houston).

Scham, ein furchtbares und zugleich faszinierendes Gefühl, und - wenn man genauer hinsieht - allgegenwärtig. Sie begegnet uns angefangen von winzigen Momenten der Peinlichkeit, wenn wir uns zum Beispiel beim PIN an der Kassa vertippen oder wenn wir den Namen eines Gesprächspartners nicht korrekt aussprechen bis hin zum massiven Scham-Anfall, wenn uns einmal wirklich etwas öffentlich danebengeht.

Diese großen Scham-Attacken und die damit zusammenhängenden Ereignisse sind unvergesslich in unser Gedächtnis eingeprägt und bei  jeder Erinnerung an das Erlebte, steigt dieses unangenehme Gefühl wieder in uns auf.

Scham ist nicht nur eines der unangenehmsten Gefühle sie blockiert uns auch. „Scham macht uns dumm“, sagte Liv Larsson meine Trainerin im Scham-, Schuld- und Ärgerworkshop. Und Scham lässt uns Dinge tun, die uns nachher leidtun.

Kann und soll man Scham vermeiden? Am liebsten würden wir das wohl.

Und dann sagt uns Marshall B. Rosenberg: „Tu nie etwas um Scham zu vermeiden.“

Wie kommt er nur zu dieser Aussage? Was steckt dahinter?

 

Um diese Frage zu beantworten, hilft es, sich zunächst einmal mit der Funktion der Scham zu befassen, mit dem Nutzen, den sie uns bringt.

Die GFK lehrt uns, dass an der Wurzel jedes Gefühls ein Bedürfnis steht. Ist ein Bedürfnis nicht erfüllt, führt das zu unangenehmen Gefühlen, ist ein Bedürfnis erfüllt erfreuen wir uns an angenehmen Gefühlen.

Dabei gibt es Gefühle, die ganz klar einem bestimmten Bedürfnis zugeordnet sind, wie beispielsweise der Hunger dem Nahrungsbedürfnis, der körperliche Schmerz der Gesundheit und die Angst der Sicherheit. Andere Gefühle, wie zum Beispiel Trauer sind weniger spezifisch und können auf verschiedene unerfüllte Bedürfnisse zurückgeführt werden.

In jedem Fall sind unsere Gefühle sozusagen die „Hüter der Bedürfnisse“. Sie erinnern uns daran, wenn es Zeit ist sich wieder um eines unserer Bedürfnisse zu kümmern, weil es gerade unerfüllt ist.

Welches Bedürfnis hütet nun die Scham? Meiner Ansicht nach ist die Scham die Hüterin des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit. Dabei verstehe ich Zugehörigkeit als einen Überbegriff, der viele Bedürfnisse überspannt, beispielsweise Akzeptanz, Gemeinschaft, Anerkennung.

Scham bewahrt uns also davor etwas zu tun, was dazu führen könnte, von unserer Gruppe ausgestoßen zu werden. Und sie meldet auch, wenn wir gerade etwas getan oder gesagt haben, was womöglich zum Ausstoß führen könnte. Da früher, also in der Steinzeit der Ausstoß aus der Gruppe lebensgefährlich war, hat die Natur mit der Scham auch gleich ein höchst unangenehmes Gefühl ausgesucht, um uns davor zu bewahren. Soweit also, der ursprünglich geplante Nutzen von Scham.

Leider bleibt es nicht dabei. Gerade weil Scham derart schwer zu ertragen ist, tun wir alles Mögliche um sie zu vermeiden. Und damit fangen die Probleme an. Um das schreckliche Gefühl der Scham nicht spüren zu müssen, flüchten Menschen laut Liv Larsson in vier verschiedene „Schamvermeidungsreaktionen“:

  • Aggression nach außen: wir beschuldigen und verurteilen andere für das, was wir fühlen
  • Aggression nach innen: wir kritisieren und beschuldigen uns selbst für den „Fehler“ den wir gemacht haben
  • (oft mit Nr. 2 verbunden) Rückzug und Unterwerfung: wir verfallen in Schweigen oder verstecken uns hinter Unwahrheiten und geben unserer eigenen Bedürfnisse auf
  • Rebellion: in dieser  ‚Jetzt-erst- recht‘-Reaktion zeigen wir verstärkt das Verhalten, dass andere als befremdlich empfinden könnten um zu demonstrieren, dass wir unabhängig, frei und stark sind und uns keinen Deut um die Meinung anderer scheren.

Die Reaktionen erfolgen unbewusst und so schnell, dass die Scham oft gar nicht mehr wahrgenommen wird. Welche wir uns aussuchen, oder sollte man besser sagen welche über uns hereinbricht, hängt sowohl von der Situation als auch von den persönlichen, gewohnten Reaktionsmustern ab.

Das Paradoxe and den Schamvermeidungsreaktionen ist, dass alle vier der ursprünglichen Absicht der Scham, nämlich dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, völlig zuwider laufen. In Gegenteil, man wird uns umso mehr ablehnen und es kann kaum Verbindung entstehen.

Was also tun?

Zunächst einmal dürfen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir die vier Schamreaktionen vollkommen aus unserem Leben verbannen können. Als unbewusste, gut eingefahrene Erstreaktion, werden sie uns wohl weiter begleiten.

Ein großer Schritt ist schon getan, wenn wir die Scham dahinter erkennen und diese dann, wenn schon nicht freudig willkommen heißen, so zumindest als Tatsache akzeptieren. Vielleicht mit einem innerlichen geduldigen Lächeln „Ach, du schon wieder ;-)“.

Sich auf die Scham einzulassen, sie wirklich zu fühlen, mag erschreckend erscheinen und ist nicht lustig und ist dennoch ein Weg zur Erfüllung unserer Bedürfnisse.

Denn im nächste Schritt suchen wir, wie so oft in der GFK, nach der ‚Schönheit der Scham‘, also nach ihrer guten Absicht, nach den Bedürfnissen die sie uns erfüllen will und auch nach den Bedürfnissen, die wir uns erfüllen wollten indem wir so gehandelt haben wie wir es eben getan haben. Und zuletzt treffen wir dann eine bewusste Entscheidung darüber, was wir als nächstes tun wollen um uns die vorhin gefundenen Bedürfnisse zu erfüllen. Das kann sein die Scham anzusprechen oder auf neuen Wegen das zu tun, was wir erreichen wollten, als das Schamwarnlicht zu blinken begonnen hat.

Vermutlich werden wir dann anders reagieren als in den 4 Schamreaktionen beschrieben. Vielleicht glückt es nicht gleich, aber wir entschließen uns zu einem zweiten Anlauf. Ich bin zuversichtlich, dass das Ergebnis gemessen an der Bedürfniserfüllung aller Beteiligten ein Besseres sein wird.

Ein Mittel, dass sich auch in meiner Erfahrung sehr bewährt hat, um mit Scham klarzukommen und ihr auch den Stachel zu nehmen, ist genau das Gegenteil von dem zu tun was unsere primäre Tendenz wäre. Nämlich nicht uns und unsere Scham zu verstecken, sondern jemandem davon zu erzählen. Nicht irgendjemandem, allerdings, sondern um mit der Schamforscherin Brené Brown zu sprechen, mit ‚der Person, die es wert ist‘.

Wer ist das nun, die Person, die es wert ist?

Diese Person tut eine ganze Menge NICHT, nämlich:

  • Selbst in Scham verfallen (Vorsicht: Scham ist ansteckend!)
  • Uns Vorwürfe machen
  • Mitleid haben / trösten /abwiegeln
  • Mit noch schlimmeren Erfahrungen aufwarten
  • Ratschläge geben / helfen wollen

Stattdessen hört diese Person uns zu, bleibt präsent und schenkt uns Empathie.

Auch so erreichen wir dass, was wir in Momenten der Scham dringend brauchen: eine tiefe wertschätzende Verbindung, zu einem anderen Menschen und zu uns selbst.

Der Weg aus der Scham heraus führt also durch sie hindurch. Sich ihr zu stellen braucht Mut und ihr entsprechend zu handeln braucht noch mehr Mut. Und doch habe ich immer gewonnen, wenn ich auf diesem Gebiet gewagt habe. Und so möchte ich euch ermutigen, der Scham nicht auszuweichen sondern die kleinen und großen Momente der Scham bewusst zu spüren und die Schönheit darin zu suchen.

Danke an alle, die bis hierher gelesen haben und alles Gute beim Ausprobieren.

Nina Schiestl